Auch 30 Jahre nach der friedlichen Revolution gibt es zu viele offene Kapitel zur DDR-Zeit – dazu gehören Zwangsadoptionen und ungeklärte Säuglingstodesfälle. Aus diesem Grund lud die Frauen Union Barnim am vergangenen Dienstagabend die Vertreter der Interessengemeinschaft gestohlene Kinder der DDR zu einer Podiumsdiskussion am Bernauer Paulus-Praetorius-Gymnasium ein.

Unrecht

Sehr wohl werden vielen Anwesenden die Geschichten der Referenten sowie anderer Gäste besser als jeglicher Geschichtsunterricht in Erinnerung bleiben. Zur Einleitung der Represallien diente beispielsweise ein Versuch der unregistrierten Ausreise aus dem „Arbeiter- und Bauernparadies“ als Anlass. So war’s im Fall des Gründers und Vorsitzenden der Interessengemeinschaft, Andreas Laake. Während er im Gefängnis saß, kam sein Sohn auf die Welt. „Man hatte mithilfe der Behörden versucht, mich dazu zu zwingen, eine Adoption zu unterschreiben“, erinnerte er sich. Eine Unterschrift leistete er nicht – mit schweren Konsequenzen: 1986 wurden ihm die väterschaftlichen Rechte aberkannt. Sein Kind durfte er erst dank einem Medienbericht im Jahre 2013 sehen.

Sabine Zapf traf das Schicksal doppelt. Als sie drei Jahre alt war, stellte der Staat fest, ihre Erziehungsbrechtigten können sie nicht im sozialistischen Sinne erziehen. Zapf wurde in ein Heim gesteckt und deren Mutter stand zwei Jahre lang unter Druck, die Freigabe zur Adoption zu unterschreiben. „Das alles habe ich erst im Jahr 2018 erfahren“, macht sie deutlich. 1985 zwang die DDR-Justiz sie selbst, ihre Kinder abzugeben. Sollte sie nicht die Freigabe unterschreiben, drohten ihr 3 Jahre Stasigefängnis. Davor saß sie mit ihrem Ehemann wegen des Ausreiseversuchs in Haft. Als sie davon erzählt, wird ihre Stimme brüchig. Weinend muss sie während der Diskussion den Saal verlassen.

Nicht selten ging das Regime noch hinterhältiger vor. „Wir waren alles andere als staatskonform“, liest Dolores Schumann aus ihrem Buch „Umwege“ vor. Angeblich fanden die Polizisten deren Tochter Julia im Jahre 1988 tot im Wasser – schnell kamen aber erste Ungereimtheiten ans Tageslicht: „Als ich Julia unbedingt noch einmal sehen wollte, rieten uns die Polizisten strikt davon ab, da eine Leiche, die so lange im Wasser gelegen habe, schrecklich aussehen würde.“. Auch das Bestattungsinstitut versuchte, die Sache zu vertuschen. Dies offenbarte sich bei der Beerdigung, als die Helfer den Sarg fallen ließen und dessen Deckel aufsprang: „Wie aufgezogen liefen wir alle um den Sarg herum, um etwas zu erkennen – aber alles, was wir sehen konnten, war eine alte karrierte Bettdecke, die nicht von uns stammte.“

Mit diesen Geschichten waren die Diskuttanten nicht alleine. Aus dem Publikum kamen Meldungen der Zeitzeugen, die auf diese oder andere Weise vom Regime verfolgt wurden. Eine Frau traf beispielsweise ein mit der Autorin der „Umwege“ vergleichbares Schicksal, die Familie einer anderen wurde von 18 inofiziellen Mitarbeitern der Stasi ausspioniert. „Und es war alles gelogen, die haben meinen Mann bewusst falsch beschrieben“, beschwert sie sich.

Enttäuschung

So konnten sich die übrigen Zuschauer ein schockierendes, aber erschreckend realistisches Bild vom Unrechtsstaat DDR machen. Doch wie sich im Laufe der Diskussion herausstellte, hat die wiedervereinigte Bundesrepublik eher für Enttäuschungen als Erfolge gesorgt. „Ich dachte, dass in der Bundesrepublik das Unrecht zu Recht wird. Ich muss sagen, ich habe mich etwas geirrt.“

„Wir haben sehr schnell erkannt, dass mit den rechtlichen Rahmenbedingungen, die zurzeit herrschen, die Aufarbeitung für dieses spezielle Thema quasi unmöglich ist“, erklärte Frank Schumann, der Ehemann der „Umwege“-Autorin und 2. Vorsitzender der Interessengemeinschaft. Bereits im Einigungsvertrag fand das Thema Adoption kaum Beachtung. Ostdeutsche Länder übernahmen nach dreijähriger die Gesetzgebung der BRD, laut der sich nur die Adoptivkinder über ihre Vergangenheit informieren konnten.

Darüber hinaus gebe es keine unabhängige Aufklärungsorganisation: „Das heißt, es gibt eigentlich keine staatliche Sorge um das Thema“, setzt Schumann die Erklärung fort. Dabei handelt es sich bereits um 500 dokumentierte Fälle, mit bis zu 72000 potenziellen illegalen Adoptionen. „Die Aufarbeitung kostet viel Geld, wir müssen Studien durchführen, es muss wissenschaftlich aufgearbeitet werden, die Opfer müssen psychologisch betreut werden – und das sollte unserer Ansicht nach der Staat finanzieren“, betont Schumann. Es könne nicht die Aufgabe der Ehrenamtlichen sein.

Zu weiteren Hürden zähle auch der Widerstand von den ehemaligen Mitverantwortlichen. „Viele unserer Betroffenen vom Säuglingstod, haben das Problem, dass sie die Unterlagen (…) nicht einfach so ausgehändigt bekommen, sondern die Institutionen im Einzelnen anschreiben und um Kooperation bitten müssen“, erinnert sich Schumann. Es handelt sich dabei vor allem um betroffene Krankenhäuser sowie deren Funktionsnachfolger, deren Mithilfe nicht als selbstverständlich gilt. „Die haben kein richtiges Interesse daran. Es könnte ja sein, dass da Informationen dabei rauskommen, die für die Kliniken nicht so vorteilhaft sind“, kommentiert er das Problem. Auch Verjährungsfristen sind dabei von Bedeutung.

Fortschritt

Um die Aufarbeitung des Themas endlich voranzutreiben, initierte die Interessengemeinschaft im Jahr 2018 eine erfolgreiche Petition, zu der es nach nur 6 Wochen eine öffentliche Anhörung gab. In der Initiative fanden sich beispielsweise Forderungen nach Verlängerung der Aufbewahrungsfristen aller relevanten Dokumente sowie deren Digitalisierung, Schaffung einer zentralen Clearingstelle zur Unterstützung leiblicher Eltern potenziell gestohlener Kinder und die Errichtung der regionalen Betreuungsstellen für Betroffene. Im Juni übertrugen die Regierungsfraktionen die Ideen in ein Gesetz und ergänzten dieses um eine DNA-Datenbank nach dem Vorbild Argentiniens, das mit einem ähnlichen Problem zu kämpfen hat. Auch Grüne wollen dem Entwurf zustimmen.

Sonst erweist sich die Zusammenarbeit mit dem Staat oft als schwierig. So bezeichnete beispielsweise die MV-Stasibeauftragte, Anne Drescher, die Forderungen der Unrechtsaufklärer in der FAZ als „Aktionismus“ und leugnete die falschen Säuglingstodesfälle. Zwar organisiert sie am 14. November eine Fachkonferenz zu Zwangsadoptionen in der DDR, aber wie Frank Schumann betonte: „Wenn man eine Tagung zu diesem Thema <> nennt, dann ist Ärger vorprogrammiert.“ Aus dieser Veranstaltung wurde die Interessengemeinschaft selbst ausgeschlossen. Rückhalt hingegen kam vor allem aus Sachsen, welches für ihn „ein wenig als Vorreiter“ gilt.

Zum Schluss machte er deutlich, dass wir mehr über DDR-Unrecht reden müssen. Es brauche mehr Formate wie Podiumsdiskussionen und offene runde Tische – und nicht nur zu Anlässen wie der 30. Jahr der friedlichen Revolution.

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